Zulehner: Polarisierungen durch Corona erfordern "Brückenbauer"
Die Corona-Pandemie hat zu Polarisierungen und Verwerfungen geführt, zu deren Überwindung "Brückenbauer" und die "Kunst des Balancierens" zwischen Gegensätzen notwendig sind. Das führt der Wiener Theologe und Werteforscher Paul Zulehner in seinem neuen Buch "Bange Zuversicht" aus. Er stützt sich in fünf resümierenden Thesen auf eine internationale Online-Umfrage, die zu weltweit 11.353 auswertbaren Reaktionen führten. Neben gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie fragte Zulehner auch mögliche Auswirkungen auf das kirchlich-religiöse Leben nach Corona ab. "Könnte nicht die Corona-Bedrängnis den Abschied eines bürgerlichen 'Schönwettergottes' einläuten und den Gott des (Mit)Leidens enthüllen?", schreibt dazu der Theologe.
Zulehner, der auch Geistlicher Assistent der KAÖ ist, hat im Juli 2020 einen von ihm erarbeiteten Fragebogen in zehn Sprachen ins Internet gestellt, 11.353 auswertbare Reaktionen weltweit waren der auch für ihn überraschende Ertrag. Geantwortet hätten primär gebildete Europäer mittleren und höheren Alters, "doch gibt es brauchbare Vergleichsgruppen - mit Ausnahme Australiens - für alle übrigen Kontinente", wie der vielfache Buchautor berichtet. Gerade für jene Länder, die von der Pandemie besonders betroffen sind, gebe es aufschlussreiches Datenmaterial: für die USA, Großbritannien, Italien, Belgien, vor allem aber für die deutschsprachigen Länder Österreich, Deutschland und die Schweiz.
Die Meinungslage in den Bevölkerungen bestätigte die allenthalben beobachtbaren Polarisierungen. Das Lebensgefühl der Menschen habe sich tiefgreifend verändert. Zum Schutz von Risikogruppen wurde das gesellschaftliche Leben zum Stillstand gebracht, die Weltwirtschaft schlitterte in eine dramatische Rezession. Die These "Vor dem Virus sind alle gleich" muss nach der Diagnose Zulehners ergänzt werden durch "Aber das Virus trifft nicht alle gleich." Es gebe ein Ringen um den Vorrang der Gesundheit oder der Wirtschaft, eine Spannung zwischen Sicherheit oder Freiheit. Viele, gerade Ältere, hätten Angst vor Ansteckung, andere wiederum gar nicht. Solidarität schüre die Pandemie bei den einen, Egoismus bei anderen. Demokratiekritische Gruppierungen verschafften sich zunehmend Gehör, so die Diagnose Zulehners.
"Was eine Gesellschaft in solchen Zeiten sehr gut brauchen kann, sind 'Brückenbauer'", befindet der Autor. Er nennt Vorbilder wie Papst Franziskus und den Großimam Ahmad Al-Tayyib sowie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Die "Kunst des Balancierens" sei gefordert, wenn Grundrechte bzw. -werte miteinander in Konflikt geraten: Freiheitsbeschränkungen müssten nachvollziehbar argumentiert sein und dürften nicht länger währen als unbedingt nötig.
"Es kommt eine Neue Soziale Frage"
"Es kommt eine Neue Soziale Frage auf uns zu" lautet eine weitere These Zulehners zu seinen Umfrageergebnissen. Diese speise sich aus zwei Quellen: von der durch Corona beschleunigten Digitalisierung und Roboterisierung sowie von den Nachwirkungen der pandemiebedingten Wirtschaftskrise. Jene, die sozial unter die Räder kommen, bräuchten eine gute Anwaltschaft durch Parteien, Gewerkschaften und auch Kirchen mit ihrer Option für die Armen. Der Theologe warnt die Regierenden davor, auf eine "Politik mit der Angst" zu setzen, die die Solidaritätsressourcen in der Bevölkerung mindere. Und er weist dabei auch der Religion eine wichtige Rolle zu: Ein das "Urvertrauen in das Leben" fördernder Glaube helfe, in Ängsten zu bestehen.
Aus der Online-Umfrage geht laut Zulehner auch hervor, dass viele die Bedrohung durch einen Klimakollaps als größer erachten als jene durch Corona. Es sei eine breite ökologische Initiative gefordert, so seine Folgerung. Diese betreffe sowohl den Lebensstil der Einzelnen als auch den großflächigen Umbau in eine ökosoziale Marktwirtschaft - auch wenn von manchen ein "Hochfahren der Wirtschaft" in Richtung bisherige Normalität verlangt werde.
"Auch Gott verschwand im Lockdown"
"Auch Gott verschwand im Lockdown" lautet die religionsbezogene Schlussthese in Zulehners Buch. Das Herunterfahren auch des kirchlichen Lebens habe "Gewohnheitschristen weiter entwöhnt"; nach der Pandemie werden weniger zur Kirche gehen, prognostiziert der Werteforscher. Die Studie habe aber auch eine erstaunliche Zahl von "Sofa-Christen" offenbart - Menschen, die vor der Corona-Krise distanziert von Kirchengemeinden waren und währenddessen digitale Gottesdienstformen nutzten.
Während der Pandemie waren laut Zulehner zwei Kirchenformate erkennbar: eine hochengagierte "Beteiligungskirche" im Dienst von Bedürftigen sowie eine virtuell und professionell agierende "Dienstleistungskirche". Zukunftsfähigkeit traut der Wiener Theologe am ehesten eine Kombination beider zu; eine Beteiligungskirche allein drohe zur Sekte zu mutieren, einer Dienstleistungskirche drohe Erschöpfung.
In manchen Ländern habe sich die Kirche während der Pandemie "in erschreckender Weise weggeduckt", deutet Zulehner die Umfragerückmeldungen. "Wenn die Kirche relevant sein will, dann existenz-, lebens- oder menschlichkeitsrelevant." Der Kirche müsse es gelingen, "aus der Asche der Strukturreformen wieder in das Feuer des Geheimnisses Gottes zu gelangen", schreibt Zulehner.
Das Buch "Bange Zuversicht. Was Menschen in der Corona-Krise bewegt" ist im Patmos-Verlag erschienen, es umfasst 240 Seiten und kostet 20 Euro. (25.2.2021)