Zulehner: Kirche muss in Pandemie ihre "Menschenrelevanz" zeigen
Die Kirche hat in der Corona-Pandemie zu viel auf ihre Systemrelevanz gepocht und zugleich verabsäumt, ihre "Menschenrelevanz" unter Beweis zu stellen. So lautet die kritische Diagnose, die der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner am Freitagabend in der ORF-Sendung "3 Am Runden Tisch" stellte. Kirche habe diese Relevanz immer dann gezeigt, wenn sie sich für die Anliegen und Sorgen der Menschen einsetzte - etwa in der Begleitung von Menschen in Pflegeheimen und Spitälern. Auch die intensive Nutzung medialer Gottesdienst-Übertragungen während der Lockdowns zeugte davon, dass die Kirche offenbar "einen Schatz für die ganze Gesellschaft" in sich trage.
Zulehner, der auch Geistlicher Assistent der Katholischen Aktion Österreich (#kaoe) ist, diskutierte in der Sendung, die die Folgen der Corona-Pandemie für die Kirche zum Thema hatte, mit dem Wiener Pfarrer Wolfgang Kimmel. Kimmel, der in Wien-Ottakring ein kirchliches Gemeinde-"Start-up" im Auftrag der Erzdiözese Wien vorantreibt, widersprach Zulehner insofern, als die Pandemie die Säkularisierung zusätzlich beschleunigt habe. Von kirchlicher Systemrelevanz könne gerade unter jungen Menschen schon lange nicht mehr die Rede sein. Seinen Auftrag sehe er daher auch nicht darin, "die Kirche zu retten", sondern vielmehr darin, Räume der Begegnung junger Menschen mit der christlichen Botschaft zu öffnen. Diese Suche nach einem "neuen Kirchenbild" sei durch die Pandemie unter jungen Menschen forciert worden.
Auf die Etablierung neuer seelsorglicher und gottesdienstlicher Formen hofft auch Zulehner: Die Tatsache, dass sich Menschen vermehrt in familiären Kreisen getroffen hätten, um miteinander in der Bibel zu lesen und das Brot zu brechen, hätte gezeigt, dass eine große Sehnsucht nach solchen neuen Formen gottesdienstlicher Praxis bestehe. Diese Chance gelte es zu nutzen, etwa in Form einer Ausbildung und Ordination von Laien zu Leitern solcher gottesdienstlicher Feiern.
In dem Kontext sprach sich Zulehner einmal mehr für die Freistellung des Zölibats aus. Die Kirche werde "fahrlässig schuldig, wenn in Gemeinden nicht mehr Eucharistie gefeiert werden kann. Ich halte das für einen Herzinfarkt der Kirche", so der Theologe. Kimmel hingegen betonte, auch wenn er nichts gegen die Abschaffung des Zölibats habe, so zweifle er doch, "ob wirklich alles besser wird, wenn es ihn nicht mehr gibt". Die Probleme und Anforderungen reichten heute viel tiefer: "Wir stehen als Kirche insgesamt an einem Kipppunkt und sind gefordert, Kirche neu zu denken". Da spiele der Zölibat nur eine untergeordnete Rolle.
Einig zeigten sich die Diskutanten darin, dass Kirche "alles dafür tun muss, um den geschehenen Missbrauch aufzuarbeiten und künftigen Missbrauch zu verhindern." Dies gelte für die Gruppe der Kleriker ebenso wie für die vielen Laienmitarbeiter in der Kirche, so Zulehner, fänden sich doch nicht nur Priester, sondern auch Laien unter den Missbrauchstätern.
(jp/19.2.2022)