Keine Chance für Gewaltfreiheit?
Das Verstummen der pazifistischen Stimmen in den vergangenen "schrecklichen Kriegstagen" bedauert der Vorsitzende der Katholischen Aktion der Diözese Innsbruck und langjährige Friedensaktivist, Klaus Heidegger. Der Co-Autor eines "Handbuches zur Neutralität und Sicherheitspolitik" vermisst, wie er in seinem Blog schrieb, auch in den Medien Friedensforscher, die für "die Kraft der Gewaltfreiheit" votieren. Stattdessen würden Militärexperten in Uniform das Geschehen kommentieren, "das sie wohl am besten verstehen".
Für Heidegger sitzt der "Haupttäter" im Kreml, Putin entscheide "selbstherrlich über Krieg und Frieden". Dennoch stelle sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines gewaltsamen Widerstands angesichts der massiven Gewalt der russischen Truppenverbände. Denn es sei bereits ein entsetzliches Blutbad im Gang, "wo auf beiden Seiten getötet und gestorben wird und die zivile Infrastruktur zerbombt wird". Heideggers bange Frage: "Werden damit jene Bilder auch in europäischen Städten zu sehen sein, die wir kennen aus dem syrischen Bürgerkrieg?"
Der Religionslehrer erinnerte daran, dass das ukrainische Volk in den Jahren 2004 in der Orangen Revolution erfolgreich zivilen Widerstand leistete: "Damals wurden lehrbuchmäßig die Instrumentarien und Taktiken gelebt, die zum Sturz eines unrechtmäßigen Regimes führen können, ohne dass irgendein Mensch stirbt." Heidegger beruft sich bei der Option dafür auf die christliche Botschaft der Gewaltfreiheit und der Feindesliebe: "Ist sie nur ein Programm für friedliche Zeiten und gilt nicht in den Stunden des Krieges?"
Die Antwort der christlichen Kirchen in Europa sei zwar "tendenziell pazifistisch geprägt", eine ausdrückliche Ermutigung zu einem Verzicht auf militärischen Widerstand vermisst der Theologe jedoch.
"Krieg schafft nur menschliches Leid"
Von einem Online-Treffen mit ukranischen Studenten und deren beklemmenden Erfahrungen in der jetzigen Kriegslage berichtet der Wiener Pastoraltheologe und Geistliche Assistent der #kaoe, Paul Zulehner, in senem Blog. Unter dem Titel "Krieg schafft nur menschliches Leid" berichtet er von einer Teilnehmerin: "Die Ratlosigkeit und tapfer gezähmte Verzweiflung sind ihr ins Gesicht geschrieben. Ob sie auswandern sollen? Ihr Mann, so fürchtet sie, wird wohl im Zuge der Generalmobilmachung die Einberufung erhalten. Bald kann er tot sein, klagt sie. Sie erzählt auch von ihren Verwandten in Moskau, die auch nicht verstehen, was gerade abläuft." Die Gruppe liest - wie Zulehner berichtet - seit Wochen gemeinsam jede Woche ein Stück aus der Enzyklika "Fratelli tutti" von Papst Franziskus über die universelle Geschwisterlichkeit - "mit großem spirituellem und praktisch-theologischem Gewinn".
Ein geplanter Kongress an der griechisch-katholischen Universität im westukranischen Lwiw (Lemberg) musste angesichts des Krieges abgesagt werden. Der "höchst passende" Titel des Kongresses hätte gelautet: "Soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Gemeinwohl: der Gefahr des Totalitarismus entgegentreten". Von einem Online-Gespräch mit einigen Referenten berichtet Zulehner: "Auch hier herrschte große Besorgnis, aber auch Zorn und Beklemmung. Der Westen lasse die Ukraine im Stich. Das Argument der bedrohten Sicherheitsinteressen könne nicht auf das 'Brudervolk' der Ukraine zutreffen. Wie soll auch das hochgerüstete Russland Angst vor dem schlecht ausgerüsteten ukrainischen Militär haben?"
Wovor freilich das vermeintlich mächtige Russland insgeheim Angst habe, sei die freiheitliche Ordnung, zu der sich die Ukraine in einer Revolution auf dem Maidan
(das Motto dieser Revolution der Würde“ war „from fear to dignity“) mit zahlreichen Opfern durchgerungen hat. Diesen Traum teilen die StudentInnen. "Der autoritäre Putin kann ihn mit seinen Waffen nicht zerstören."
(jp/4.3.2022)