Der Friedhof als besonderer Ort einer tiefen Convivialität
Erst wenn Rituale geteilt werden, entfalten sie ihre Kraft. Gerade die Feiern, die Liturgien und die lokalen Riten, Symbole und Traditionen rund um den Tod, die zu Allerheiligen und Allerseelen in besonderer Weise begangen werden, bieten eine besondere Chance, sich als dankbare Lebensgemeinschaft zu erleben, sich in einer zweckfreien Convivialität aufgehoben zu wissen. Die Blumen, die Lichter, die Prozessionen, die Gebete, die Musik führen uns in das tiefe Geheimnis des gemeinsamen Lebens (lat. con vivere), hin zu den Lieben, die vorausgegangen sind und doch ganz zu unserem Leben gehören.
Das Sterben und der Tod haben in unserer auf Nutzen und Zweck, auf Schnelligkeit und marktorientierter Lebensökonomie basierenden technogenen Gesellschaft den Charakter eines Betriebsunfalles bekommen. Sterbende werden zum Teil an die Ränder und in Ghettos gedrängt. Der Tod ist zu einem Maschinenschaden menschlichen Lebens geworden. Die Welt begreift sich immer öfter als große Megamaschine, ist geprägt von der Austreibung des Anderen, des Fremden, des Unangenehmen und entfaltet entlang von Algorithmen, die keinerlei Zwischentöne kennen, ein Leistungsdenken und ein Selbstoptimieren, das Distanziertheit und "Kommunikation ohne Gemeinschaft" entfaltet. Im allgegenwärtigen Wachstums- und Produktionsmodus gibt es im Grunde nur zwei Daseinsformen: funktionieren oder kaputt. Der Tod wird als Missgeschick, eben als Betriebsunfall gedeutet. Der Friedhof ist deshalb für viele ein unangenehmer Ort geworden.
Als Katholische Aktion ermutigen wir Menschen gerade zu Allerheiligen, Allerseelen, eine vielleicht neue Form der Convivialität, des Zusammenlebens, Zusammenspürens und Zusammenfeierns in den Blick zu nehmen. Dieses "Zusammen-leben" orientiert sich an der gelebten und zweckfreien Gastfreundschaft, öffnet Räume, um das Gemeinsame, den Zusammenhalt, das Zusammengehören wieder in den Mittelpunkt zu stellen, ganz haptisch. Solche Convivialität ist geprägt von einer ruhigen Einfachheit, von einer glücklichen Genügsamkeit und anerkennt Grenzen. Der Tod hat keine Taschen, wo du etwas mitnehmen könntest. Die Not wird in die Mitte genommen und dieses Lebensverständnis kennt den "Bruder Tod". "Warum müssen wir sterben?" ist jene Frage, die als Antwort "Weil wir leben" anerkennt. Wir gehen an die Gräber zu Menschen, die sich oft aufgeopfert, Liebe und Empathie gelebt haben, in die Compassion gegangen sind. Damit wird der Friedhofbesuch in direkter Weise auch ein Protest gegen die rein kapitalistische Sicht, die die liebevolle Hingabe, das hingebungsvolle Opfer, dass sich jemand hingebungsvoll zur Verfügung stellt, als vollkommen idiotisch ansieht. Liebe sprengt die Logik des Marktdenkens. Zweckfreie, hingebungsvolle Liebe scheint vielen heute übertrieben, sentimental oder gar naiv. Eine neue Convivialität sieht das als Zentrum, gerade auch mit Blick auf die jetzt im Raum stehenden Herausforderungen wie Krieg, Klima oder Transformation der alltäglichen Lebensvollzüge.
Der Wunsch nach sozialer Begegnung, nach heilenden Beziehungen und haptischer Verbundenheit liegt in der Natur des Menschen. Gerade das Zusammentreffen der Familie, der Großfamilie, des Freundeskreises am Friedhof in den Tagen des Gedenkens an unsere Verstorbenen kann diese neue und tiefe Convivialität zum Ausdruck bringen. Leben und Sterben sind unser Leben. Die kirchlichen Rituale und die Traditionen vieler Vereine zu Allerheiligen und Allerseelen - beispielsweise der Musikkapellen - sind kein Selbstzweck, sondern Ausdruck, Hilfe und Unterstützung darin, dass Menschen zusammenfinden und den Tod wie die Verstorbenen in ihre Lebensmitte holen. Auch die neuen Formen von Ritualen wie beispielsweise der Katholischen Jungend mit der "Nacht der 1000 Lichter" greift dieses Urbedürfnis des Menschen auf.
Wir wissen: Erst wenn Rituale geteilt werden, entfalten sie ihre Kraft. Diese Kraft kann gerade am Friedhof und in den Kirchen erlebt und als besonderes Belebungsmittel Richtung neue Convivialität erfahrbar werden.
(ps/24.10.2022)