Gedenken heißt, auch heute genau hinzusehen
Am Samstagabend, 2. November 2024, fand in Pichl bei Wels (OÖ) das Gedenken an die „Kinder von Etzelsdorf“ statt. Dabei wurde jener Kinder von slawischen Zwangsarbeiterinnen gedacht, die während der NS-Zeit ihren Müttern entzogen und in sogenannte „Fremdvölkische Kinderheime“ gebracht wurden, wo sie mehr schlecht als recht betreut wurden und wo Tausende dieser Babys um Leben kamen. Allein in Oberösterreich gab es ca. ein Dutzend solcher Heime, im ganzen Reich waren es ca. 300. Insgesamt spricht die Wissenschaft von mehr als 200.000 Zwangsarbeiterinnenkindern (viele davon wurden gewaltsam gezeugt), von denen mindestens 12.000 im Säuglings- und Kleinkindalter verstarben.
Seit 2005 gibt es in Pichl eine Gedenkstätte für die im örtlichen Schloss verstorbenen Kinder, die in Kooperation mit der katholischen Pfarrgemeinde errichtet wurde und wo jedes Jahr am Allerseelentag eine Gedenkfeier stattfindet. Heuer jährte sich das Sterben der mindestens 13 Säuglinge aus dem Schloss Etzelsdorf (von 38 zu diesem Zeitpunkt dort anwesenden) zum 80. Mal. „Das Thema bzw. der historische Sachverhalt ist nach wie vor vielfach unbekannt, doch die Kinder sollen nicht vergessen werden“, so der Initiator der Gedenkstätte, Martin Kranzl-Greinecker. „Vor allem aber geht es darum, dass Kinder nie wieder durch rassistisch motivierte Ausgrenzung, Gewalt und Vernachlässigung um ihre Lebenschancen gebracht werden.“
Als Rednerin für das Gedenken in diesem Jahr wurde die Präsidentin der Katholischen Aktion OÖ., Gabriele Hofer-Stelzhammer, eingeladen. Sie ging in ihrer Rede u.a. der Frage „Warum gedenken?“ und sagte: „Jedes Kind – damals und heute - hat das Recht auf Namen und Familie.“ Diese Forderung der UNO-Kinderrechtskonvention scheint uns heute selbstverständlich. Ist es aber leider nicht.
Ich bedanke mich für die Einladung zur Gedenkfeier „Wir vergessen euch nicht!“ an der Gedenkstätte für die Kinder von Etzelsdorf zu Ihnen sprechen zu dürfen. Vor 80 Jahren, im Sommer 1944, wurden die ersten 38 der insgesamt 70 Säuglinge in das „Fremdvölkische Kinderheim Schloss Etzelsdorf“ in Pichl bei Wels gebracht. Die Kinder hatte man ihren Müttern - slawischen Zwangsarbeiterinnen – weggenommen, wenige Monate später waren 13 von ihnen an Hunger und (Gefühls-)Kälte gestorben. Nicht nur Nahrung, auch Zuwendung hat ihnen gefehlt.
Seit 2005 erinnert diese auf Initiative von Mag. Martin Kranzl-Greinecker und der Pfarre Pichl errichtete Gedenkstätte hier am Friedhof Pichl an das Schicksal der überwiegend polnischen Zwangsarbeiterinnen und ihrer Kinder während der NS-Diktatur.
Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte ist uns in Österreich seit jeher nicht leichtgefallen. Aber besonders erschütternd ist das Vergessen auf die Kinder der fremdvölkischen Kinderheime, auf ihre Mütter, die Schwangerschaften und Geburten, Zwangsabtreibungen und die Wegnahme ihrer Kinder.
Warum Gedenken, wurde ich in der Einladung gefragt. Wozu gedenken an etwas, das schon so lange zurückliegt? Warum in alten Wunden wühlen? Warum nicht einfach abschließen mit dem, was während des Zweiten Weltkriegs geschah?
Erinnern, sich mit der eigenen Geschichte – in diesem Fall auch grausamen Gesichte - auseinanderzusetzen ist schmerzhaft. Aber genau das muss es auch sein. Deshalb sind Gedenkorte immer Orte, die Besucherinnen und Besucher erschüttert und emotional getroffen zurücklassen.
Wir tragen heute eine Verantwortung dafür, nicht zu vergessen, was passiert ist. Die Erinnerung an den Orten, an denen wir leben - und heute in Frieden - leben können, aufrecht zu erhalten.
Ich bin in unmittelbarer Nähe des Schlosses Hartheim aufgewachsen, einer Euthanasieanstalt für „lebensunwertes Leben“. Und obwohl in meiner Kindheit und Jugend niemand über das grausame Geschehen an diesem Ort während der NS-Zeit sprechen wollte, wurden wir jedes Jahr rund um den 4. Mai darauf aufmerksam. In den kleinen Ort kamen unglaublich viele Autobusse; 20, 30, 40 Busse mit Menschen aus Italien, Frankreich und anderen europäischen Ländern. Für diese vielen Menschen, Angehörige und Trauernde der Opfer, gab es kein würdiges Gedenken. Schloss Hartheim stand nach dem Krieg leer und 1954, nach dem großen Hochwasser an der Donau, wurden die Räumlichkeiten Menschen zur Verfügung gestellt, die ihr Hab und Gut verloren hatten. Der Oberösterreichische Landeswohltätigkeitsverein richtete erst 1969, vor allem auf Verlangen von Angehörigen von Opfern, im ehemaligen Tötungsraum eine Gedenkstätte mit katholischer Prägung ein. In der Nähe wurde das Institut Hartheim errichtet, ein Haus für Menschen mit Beeinträchtigung.
In meiner Kindheit in den 1960-iger und 1970-iger Jahren lebten Menschen im Schloss, die mit Mühe ihr Leben neu aufbauten und die mit der erschütternden Geschichte der Kriegszeit nicht in Berührung gebracht werden wollten. Und wenn diese Busse mit den Angehörigen kamen, um einen Kranz niederzulegen und einen Ort für ihre Trauer zu haben, gab es im Schloss nur diesen Raum, in dem sie das tun konnten. Aber wenn sie sich nach der langen Busfahrt auch noch erfrischen wollten, gab es in der Umgebung nur unsere kleine Bäckerei. Es war für mich als Kind immer aufregend, wenn diese interessanten Menschen mit fremden Sprachen kamen, die um ein Glas Wasser baten, Gebäck einkauften oder einfach nur unser WC benützen wollten.
Später im Gymnasium, als durch meine hervorragende Geschichteprofessorin Frau Dr.in Hedwig Pfarrhofer mein historisches Bewusstsein für diesen Ort sensibilisiert wurde, begann ich, konkrete Fragen an die Nachbarinnen und Nachbarn zu stellen. Die Antworten haben sich oftmals wiederholt „Sei froh, dass du das nicht erlebt hast! Gott-sei-Dank ist diese Zeit vorüber! Wir wissen nichts, wir waren mit anderen Dingen beschäftigt!“
Später, als junge Erwachsene, hat mich die Geschichte dieses Ortes weiterhin interessiert. Ich konnte nicht verstehen, warum der Ort für die Menschen in der Nachbarschaft so wenig Bedeutung hatte. Ich habe einen Kulturverein gegründet und eine Laien-Theatergruppe geleitet. Wir haben Theaterstücke inszeniert, die immer einen historischen Bezug hatten. Wir luden bekannte Persönlichkeiten wie Erwin Ringel mit dem Thema „Behinderung und Lebensrecht“ zu Vorträgen ein. Unsere ehrenamtliche Laientätigkeit wurde durch regen Besuch belohnt.
Heute ist Schloss Hartheim ein bedeutender Lern- und Gedenkort, jährlich findet am 1. Oktober die Gedenkfeier für die Opfer der NS-Euthanasie statt. Mit der Ausstellung zum Thema „Wert des Lebens“ ist es ein glaubwürdiger Wächter über moralische Entwicklungen in der Gesellschaft, denn der Ort zeigt auf, wozu Menschen fähig sind. Hier kann authentisch über den Wert des Lebens diskutiert werden, besonders am Beginn und Ende des Lebens. In Zeiten der modernen biotechnischen Entwicklung sind Häuser wie Schloss Hartheim wichtige Orientierungspunkte in der unüberschaubaren Landschaft des medizinisch-technisch-digitalen Fortschritts.
Heute stehen wir an einem weiteren wichtigen Ort der Erinnerung. Über das Schicksal der Opfer der Fremdvölkischen Kinderheime - Mütter, Babys und Kleinkinder - ist bis heute wenig bekannt. Nichts rührt uns so sehr wie die Geburt eines Kindes. Ein Baby, ein neugeborenes Leben, das in die Familie kommt, ist jedes Mal ein kleines Wunder und Ausdruck der Hoffnung und Zuversicht für alle, Eltern, Großeltern, Tanten, Onkeln, Freunde und Nachbarn, alle freuen sich und bringen Glück- und Segenswünsche.
Deshalb lassen uns die Verbrechen, die an Müttern und Kindern in den Fremdvölkischen Kinderheimen begangen wurden, fassungslos zurück. Zwangsarbeiterinnen, die aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten verschleppt und abfälligerweise „Ostarbeiterinnen“ genannt wurden, kamen auch in diese Gegend. Für die schwanger gewordenen, oft noch sehr jungen Frauen aus der Sowjetunion und aus Polen wurden Heime mit unmenschlicher Unterbringung errichtet, sie waren der Willkür und Gewalt des NS-Regimes und der in diesem System handelnden Personen ausgesetzt.
„Wie konnte so etwas passieren, wie konnte man unschuldigen Kinder so was antun?“, fragen wir uns heute entsetzt! Und warum wurde so lange darüber geschwiegen? Vielleicht weil die Kinder der Zwangsarbeiterinnen keine Lobby hatten und haben? Vielleicht weil es weh tut, sich mit solch unsagbar schwerem Leid und schwerer Schuld auseinanderzusetzen?
Daher ist es umso wichtiger, dass diese Kinder ihre Namen und Identitäten zurückbekommen, dass wir uns an sie und ihre Mütter erinnern, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, ihr Leiden und Sterben eine Mahnung sind für das „Nie wieder!“ und somit nicht sinnlos waren.
Daher stellt sich nun zurecht die Frage, wozu Gedenken? Ganz einfach, weil es wichtig ist, diese Orte der Erinnerung aufrecht zu erhalten, die uns mahnen, wie schnell die Menschlichkeit verloren geht und wie wertvoll unsere Demokratie ist.
Und wenn wir uns heute fragen, wie konnte es jemals so weit kommen, wie konnte diese Unmenschlichkeit so ausufernd um sich greifen, dazu müssen wir den Weg, der in den Abgrund führte, offenlegen.
„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien, für eine große Empörung. Der Weg zur Barbarei der NS-Zeit besteht aus unzählig vielen und winzig kleinen Schritten. Und wir können die winzig kleinen Schritte nachvollziehen, die durch das 18. und 19. Jahrhundert trippelten, immer größer wurden und schneller, bis sie schließlich die Tore von Auschwitz, Treblinka und Mauthausen erreichen“, sagt Michael Köhlmeier 2018 in seiner bedeutenden Rede "Die Dinge beim Namen nennen" im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
Achten wir also auf die winzig kleinen und weniger kleinen Schritte, die heute getan werden. Fragen wir mit Köhlmeier, welche Schritte in eine ähnliche Richtung weisen, auch wenn wir von der Barbarei von Hartheim und den Fremdvölkischen Kinderheimen weit entfernt sind. Machen wir uns bewusst, was es bedeutet, wenn laufend Sündenböcke gesucht und benannt werden, nach einem Volkskanzler gerufen wird und ähnliches mehr.
„Was wir den Opfern schuldig sind, ist die Anstrengung des Erinnerns und des Verstehens. Wir schulden ihnen die Genauigkeit des Hinsehens“, schrieb Herbert Friedel, der künstlerische Gestalter der Gedenkstätte zur Ausstellungseröffnung vor zwanzig Jahren in Hartheim. Und vielleicht ist auch heute an jeden und jede Einzelne von uns die Frage zu richten: Wo werde ich gebraucht? Wo schaue ich genauer hin? Wo liegt meine Verantwortung? An dem Ort, an dem ich bin.
Nähere Infos zur Gedenkstätte: Gedenkzeichenfolder
(ps/5.11.2024)